Umbau der Martinskirche in Stuttgart
Das Architekturbüro Prinzmetal hat über viele Jahre Partizipations-Workshops durchgeführt, bevor es mit dem Umbau der Martinskirche in Stuttgart begonnen hat. Heute wird die für Gesamtbaukosten in Höhe von rund 7,2 Millionen Euro umgebaute Kirche vielfältigen Anforderungen gerecht.
Im Grunde begann alles vor vielen Jahren mit einer Diplomarbeit. Seinerzeit beschäftigten sich die Architekten (und damals noch Studenten) Gerald Klahr und Aaron Werbick im Rahmen ihrer Abschlussarbeit mit dem Thema, wie Kirchenräume wieder stärker als öffentliche Räume genutzt werden können. Die Evangelische Martinskirche in Stuttgart-Nord stand zu diesem Zeitpunkt, Ende der 1990er / Anfang der Nullerjahre, weitgehend leer und bot sich daher als Beispielprojekt an. 2003 etablierte sich die Kirche dann als Jugendkirche. In diesem Rahmen begann zwei Jahre später der partizipative Prozess, in dem mit den zukünftigen Nutzerinnen und Nutzern sowie dem von Klahr und Werbick gegründeten Architekturbüro Prinzmetal unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten mit einfachen Mitteln durchgespielt wurden.
In ihrem äußeren Erscheinungsbild hat sich die in den 1930er Jahren erbaute Kirche durch den Umbau nicht verändert
Foto: Birgida González
„Über 10 Jahre lang haben wir mit unserem Büro den Prozess begleitet“, erzählt Gerald Klahr. „Selbstverständlich nicht durchgehend, aber wir haben jedes Jahr über einen Zeitraum von etwa sechs Wochen in Workshops zunächst nur mit den Jugendlichen, später auch mit weiteren Nutzergruppen und lokalen Akteuren die Möglichkeiten der Räume durchgespielt.“ Hierbei wurde beispielsweise mit Möbeln aus Europaletten oder Gerüstbohlen gearbeitet. 2015 wurde dann ein nicht offener Realisierungswettbewerb durchgeführt, den das Büro Prinzmetal für sich entscheiden konnte. Die Idee der Partizipation ist aufgegangen. Viele der temporär entwickelten Möbel und Zuordnungen wurden weitergedacht und an eine langfristige Nutzung angepasst. Heute fühlen sich viele Menschen mit den Kirchenräumen verbunden. Die inzwischen denkmalgerecht sanierte und entsprechend den Partizipationsworkshops umgebaute Kirche hat sich in der Nachbarschaft etabliert.
Standort und Nutzungen
Gebaut wurde die Kirche 1937 von Karl Gonser im Stil der so genannten Ersten Stuttgarter Schule. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie zerstört und nach dem Krieg wieder aufgebaut. Hauptaugenmerk der Umbauarbeiten heute richtete sich auf die Nutzung und Umgestaltung der Kirchenräume, nicht auf die äußere Hülle.
Neben der Jugendkirche, deren Pfarrerin seinerzeit die partizipativen Maßnahmen vorangetrieben hatte, nutzen auch die evangelische Nordgemeinde Stuttgart und die so genannte Kesselkirche die Kirchenräume.
Erwähnenswert ist auch der Standort des Kirchenbaus, denn dieser befindet sich im Bereich der städtebaulichen Veränderungen im Zuge des Verkehrs- und Städtebauprojektes Stuttgart 21. „Die Kirche als Institution hat den Wert der Martinskirche erkannt und investiert, zumal abzusehen ist, dass sich das multikulturelle und von Künstlern und Kreativen geprägte Stadtquartier in den nächsten Jahren von derzeit etwa 15 000 Einwohner auf entsprechend 30 000 verdoppeln wird“, so Architekt Klahr. „Die Martinskirche etabliert sich als ein wesentlicher sozialer und kultureller Baustein des neuen Stadtteils.“
Im Grundriss gut zu erkennen ist das relativ breite Hauptschiff der Kirche, das nun sehr frei in seiner Nutzung bestuhlt oder beispielsweise durch Podeste für Veranstaltungen genutzt werden kann, mit einem schmalen Seitenschiff an der Westseite. Auffällig ist vor allen Dingen der ebenfalls im Westen ansetzende Seitenflügel, der hier im Winkel von etwa 50° wie ein abgespreizter Finger ursprünglich als Gemeindehaus fungierte. Diese Funktion war zwischenzeitlich in ein anderes Gebäude ausgelagert worden. Hier sind nun ein vielseitig nutzbarer Spiel- und Gemeinschaftsraum sowie das Büro der Kesselkirche untergebracht.
Café im ehemaligen Bunker
In den ehemaligen Schutzräumen im Untergeschoss befindet sich heute ein Café
Foto: Birgida González
Der dritte Bereich, der von den Architekten neu bespielt wurde, ist das Untergeschoss. Dieses war bauzeitlich als Bunker angelegt worden und wurde zu Kriegszeiten als Lazarett genutzt. Heute ist hier neben dem Büro der Nordgemeinde ein Bistro eingerichtet. Die Umgestaltung des ehemaligen Bunkers in ein Café, in dem man sich wohlfühlt, dessen Neugestaltung aber nicht gänzlich seine Geschichte übergehen sollte, gehörte zu den Aufgaben, die besonders viel Fingerspitzengefühl benötigten. Das Nachbarschaftscafé ist jedenfalls ein Erfolg, der zugegebenermaßen nicht allein der Sanierung zu verdanken ist, denn das Martinscafé existiert grundsätzlich bereits seit 2003.
Dennoch konnte auch durch den vorgelagerten, neu gestalteten Platz und die über Abgrabungen jetzt barrierefreie Erschließung der Bistroräume das Café seine Attraktivität auch in der Nachbarschaft steigern. Es hat eine bunte Nutzerschaft von älteren Leuten, über Akteure des Kunstvereins bis hin zur „Homeoffice“-Nutzung durch junge Leute aus der Nachbarschaft. „Unser Gedanke war, den Bunker restauratorisch aufzubereiten ohne seine ehemalige Funktion zu überdecken“, erläutert Aaron Werbick. „Die Idee war, gerade den Kirchenraum sehr weich und im Gegensatz dazu das Untergeschoss hart und rau in seinen Oberflächen zu gestalten.“ Es sollte weder ein Museum noch eine Gedenkstätte werden, sondern in erster Linie ein millieuübergreifender Ort der Begegnung, an dem man dennoch nicht die Augen vor der Vergangenheit verschließt.
„Die Herausforderung war tatsächlich die Gratwanderung zwischen erhalten, auf keinen Fall aufhübschen und doch einen Raum schaffen, in dem man sich gerne aufhalten mag“, ergänzt Jan Rademaker, der für die AeDis AG als Restaurator an dem Projekt beteiligt war. „Ein wesentlicher Schritt war dabei, einen Kalkputz in Eigenrezeptur zu entwickeln, der durch die Verwendung verschiedener Sande in seiner Farbigkeit an den Originalputz angepasst ist.“ Nach dem Antragen wurden diese Stellen allerdings gekratzt, um sie so durch die raue Oberfläche als Ergänzung kenntlich zu machen.
Die Leuchtfarbe war sehr spröde und musste mit einem Klebemittel fixiert werden
Foto: AeDis
Es gab diverse weitere denkmalpflegerische Arbeiten, wie die Trockenreinigung der Wände mit Latexschwämmen, die Putzstabilisierung, die Hohlstelleninjektion und das Vermauern von Öffnungen. Im ehemaligen Sicherheitsraum wurde die Leuchtfarbe an Wänden und Decken mit einem Klebemittel fixiert. Ein wesentliches Merkmal der Funktion als Sicherheitsraum wurde so konserviert.
Multifunktionsmöbel im Seitenflügel
Das große, von einer zur anderen Raumseite reichende Multifunktionsmöbel musste vor Ort aufgebaut und eingepasst werden
Foto: Die Schreinerei Muny
Im Seitenflügel galt es, einer ganz anderen Aufgabe gerecht zu werden: eine multifunktionale Nutzung des 10,00 x 6,50 m großen Raumes. Die Lösung erfolgte über ein riesiges Multifunktionsmöbel, das von der Schreinerei Muny aus Eiche massiv und Eiche furniert sorgfältig, gemäß der vielfältigen Anforderungen, gefertigt wurde. „Im Grunde muss man sich das Möbelstück zunächst vorstellen wie eine große hölzerne Fläche, die von einem Ende des Raumes bis zum anderen reicht und eine Höhe von 3,27 m misst“, erläutert Schreinermeister Kajetan Wedelich. „Die hinterste Ebene bilden Regale, die als Stauraum für Kleinteile genutzt werden. Hohe Stellwände werden vor beziehungsweise in diese Regale geschoben.“
Insgesamt handelt es sich um sieben 1,28 x 2,08 m große Elemente, von denen fünf baugleich sind, während es sich beim Element sechs um ein kleines mobiles Büro und beim Element sieben um eine kleine Teeküche handelt. Die Teeküche bleibt frei. Hier wird keine Stellwand vor die Küche geschoben. Im untersten Bereich der mobilen Wände finden jeweils drei weiche Sitzhocker ihren Platz. Eine weitere Finesse des Möbels ist seine Funktion als Mezzaningeschoss. Auf 2,26 m Höhe, hinter den Regalwänden, mit einer Breite von 1,28 m kann hier eine kleine Galerie mit Klapptischen und -bänken auch zum Schreiben und Malen genutzt werden.
Kirchenraum und Empore
Auch im Kirchenraum selbst ging es in erster Linie um Multifunktionalität beziehungsweise Nutzungsneutralität. Wie in jeder klassischen Kirche gibt es auch in der Martinskirche einen Altarbereich auf der einen Stirnseite und eine Empore auf der anderen. Der Kirchenraum dazwischen kann frei und flexibel bestuhlt und durch die rollbaren Podeste und eine entsprechende Bühnentechnik auch für andere Veranstaltungen genutzt werden. Der Raum wurde hell und reduziert gestaltet, mit einer freundlichen, zurückhaltenden Ausstrahlung.
Durch die Verkleidung mit verputzten Gipsplatten passt sich die Empore hervorragend in ihre Umgebung ein
Foto: Die Bauklötze
Besonderes Augenmerk sollte der Empore gewidmet werden. Auch sie spielt sich nicht in den Vordergrund, sondern passt sich in die Gesamtgestaltung ein und doch ist sie ein gänzlich neues Element, das auch in seiner Funktion neu konzipiert wurde: Durch zwei große Doppelflügeltüren im Erd- und im Obergeschoss lassen sich die Räume flexibel dem großen Kirchenraum zuschalten oder von ihm abtrennen. So entsteht im Erdgeschoss die so genannte Martinskapelle und im Obergeschoss die Jugendkapelle der Jugendkirche.
Was nur schwer zu erahnen ist: Hinter den weiß verputzten Oberflächen der Empore verbirgt sich eine komplexe stählerne Konstruktion. „Es steckt ein anspruchsvoller Stahlbau hinter den Gipsbauplatten“, bestätigt Tragwerksplaner Stephan Engelsmann vom Büro Engelsmann Peters GmbH.
„Die funktional erforderliche, stützenfreie Überspannung des Raumes und die Auskragung der Empore in den Raum hinein in Verbindung mit der nicht ausreichenden Traglast der Decke über dem Untergeschoss erforderten es, wandartige Fachwerkträger auszubilden und auch die Brüstung als tragendes Bauteil zu konzipieren.“ Die historische Eisenbeton-Rippendecke konnte aus Sicherheitsgründen nicht mehr restauriert werden. Die statisch-konstruktive Überprüfung ergab, dass sie bereits zu Bauzeiten nicht regelkonform konstruiert worden war und zudem die neuen Lasten nicht hätte aufnehmen können.
Stahlkonstruktion im Verborgenen
Der freie Raum zwischen Empore und Altar kann bestuhlt oder mit flexiblen Podesten für Veranstaltungen genutzt werden
Foto: Birgida González
Die neue Stahlkonstruktion besteht aus überwiegend diagonal ausgesteiften Stahlrahmen unterschiedlicher Größe und erreicht eine Höhe von bis zu 9,00 m, wobei die Oberkante des Fußbodens der Empore bei 3,56 m liegt. Die Fußbodenebene besteht statisch-konstruktiv aus Holzbalken und einer 3,5 cm dicken Fünfschichtplatte. Die Wände der Konstruktion haben die Handwerker mit Mineralwolle gedämmt und mit Gipsbauplatten doppelt beplankt und verputzt.
Interessant wurde es bei der Emporentreppe. „Der in der Wand geführte Handlauf der Emporentreppe kollidierte geometrisch mit den Stahlstützen der Emporenkonstruktion“, berichtet Tragwerksplaner Engelsmann. „Um diesen geometrischen Konflikt zu lösen, mussten einzelne Stahlstützen ausgeschnitten und ausgewechselt werden.“
Treppe wird von gebogener Wand eingefasst
Eine gewisse Herausforderung war die neue Treppe auch für den Trockenbau. Zum einen wird sie von einer gebogenen Wand eingefasst, zum anderen verbindet sie den massiven Bestand über den Trockenbau mit dem Stahlbau. Zudem lag hier auch für den Trockenbau eine Besonderheit im innenliegenden, der Rundung folgenden Handlauf, der vom Stahlbau in den Massivbau überging. „Für die Rundung werden die Gipsbauplatten nass gemacht und über eine Holzschablone in Form gebogen“, erläutert Michael Schramm, Geschäftsführer der Firma Die Bauklötze, die für den Trockenbau zuständig war. „Die Kunst bestand darin, die optimale Form festzulegen, so dass sich trotz der zu erwartenden Bewegungen im Stahlbau keine Risse bilden.“
Fazit
Nicht nur diese Hürde wurde genommen. Eine Vielzahl kleinerer und größerer Herausforderungen mussten in diesem Projekt bewältigt werden. Aber es hat sich gelohnt. Alle am Bau Beteiligten sind – zu Recht – sehr zufrieden mit dem Ergebnis und betonen die gute, respektvolle Zusammenarbeit untereinander und nicht zuletzt mit den beiden ausgesprochen engagierten Architekten.
Autorin
Dipl.-Ing. Nina Greve studierte Architektur in Braunschweig und Kassel. Heute lebt und arbeitet sie als freie Autorin in Lübeck (www.abteilung12.de) und ist unter anderem für die Zeitschriften DBZ, bauhandwerk und dach+holzbau tätig.
Baubeteiligte (Auswahl)
Bauherr Evangelische Gesamtkirchengemeinde Stuttgart
Architektur Studio Prinzmetal, Köln und Stuttgart, www.prinzmetal.de
Tragwerksplanung Engelsmann Peters, Stuttgart, engelsmannpeters.de
Tischlerarbeiten Die Schreinerei Muny, Kornwestheim, www.muny.de
Restauratorische Arbeiten AeDis, Ebersbach-Roßwälden, aedis-denkmal.de
Trocken- und Ausbauarbeiten Die Bauklötze, Murr, www.die-baukloetze.com