Brücke ins Licht

Im Kunstmuseum Wolfsburg ist noch bis Ende des Monats ein so genanntes Ganzfeld Piece zu sehen. Mit Hilfe von Licht und Trockenbautechnik entführt das Werk des Lichtkünstlers James Turrell in eine grenzenlose Welt aus Raum und Licht.

„Herr Turrell lässt ausrichten, wenn unsere hervorragend ausgebildeten Techniker im hoch industrialisierten Deutschland diese Details nicht realisieren können, dann lässt er die Indios aus dem Hochland von Argentinien einfliegen, die dort für ihn derzeit ein ähnliches, wenn auch kleineres Projekt bauen. Von Hand, mit Hilfsarbeitern und wenigen Hilfsmitteln, versteht sich.“ Diese Herausforderung saß. Und plötzlich fanden die Techniker der Firma Knauf Gips und die Monteure der Steib Systembau GmbH ihnen bislang unbekannte Mittel und Wege, um das neueste Kunstwerk von James Turrell in Wolfsburg in die Realität umzusetzen – und entdeckten dabei eigene Fähigkeiten, von denen sie gar nicht gewusst hatten, dass sie existieren.

James Turrell gilt als der weltweit bedeutendste Lichtkünstler unserer Zeit. Im Kunstmuseum der Stadt Wolfsburg steht seit Oktober vergangenen Jahres sein bislang größtes Ganzfeld Piece „Bridget‘s Bardo“ – das den Besucher in eine grenzenlos erscheinende Welt aus Licht und Raum entführt. Auf 700 m² Fläche und mit 11 m Höhe entwickelt sich das Kunstwerk in Form von zwei ineinander übergehenden Räumen, dem „viewing space“ genannten Betrachterraum und dem Erfahrungsraum namens „sensing space“. Die Mittel, aus denen dieses Raumerlebnis in dem eigentlich vollkommen leeren Saal besteht, sind scheinbar banal: Trockenbaukonstruktionen, das Stellwandsystem des Kunstmuseums Wolfsburg sowie Lichttechnik. Ihre Wirkung ist jedoch so phänomenal, dass sich die Installation mittlerweile zur bestbesuchten Ausstellung seit Gründung des Museums entwickelt hat. „Allein 85 000 Besucher haben Bridget‘s Bardo vom 24. Oktober 2009 bis 31. Juli 2010 bereits besucht, und das Interesse ist weiterhin riesig“, freuen sich Henning Schaper, Geschäftsführer des Kunstmuseums Wolfsburg und Prof. Dr. Markus Brüderlin, Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg, als Initiatoren dieses gewagten Experiments.

 

Perfekt ausgesteuertes Lichterlebnis

Eintrittspunkt in den künstlichen Lichtquader ist ein rechteckiges Tor (in 6,5 m Höhe) aus spitz zulaufenden Metallständerwänden, das sich an der kurzen Seite des 11,80 m hohen Raums befindet. Eine lang gestreckte Rampe führt von hier aus hinunter in die Szenerie, die allein durch Licht und Leere brilliert. Schon wenige Meter hinter dem Eintrittstor fühlt der Besucher die Konturen ringsum verschwimmen. Obere Raumkanten? Nicht zu sehen. Die Decke? Unendliche Farbe. Die Front, auf die der Besucher auf seinem Weg nach unten zuläuft? Grenzenloses Licht. Einzige Anhaltspunkte scheinen die Rampe selbst zu sein und die scharfen Kanten, die den vorderen Rahmen des „viewing space“ konturieren. Wer von hier nach oben blickt, erahnt den Beginn der Raumkanten zwischen Decke und Wänden – und spürt gleichzeitig, wie sie sich schon wenige Meter weiter in Luft aufzulösen scheinen. Wer sich nach vorne tastet Richtung „sensing space“ – zum scheinbaren Ende des Raumes hin – trifft auf – Nichts. Ein Blick nach oben zeigt – Nichts, zur Seite – Nichts. Nur Unendlichkeit in allen Richtungen. Getaucht in ein sich stets wandelndes Farbspektrum aus Rot, Blau und Pink. Einzige Fixpunkte sind hier wieder die sich scharfkantig gegen den Raum abhebende Rampe und das obere Tor, das von der unteren Ebene des Quaders allerdings nur noch als zur Raumfarbe komplementäres einfarbiges Bild wahrgenommen wird. Und ein ebenso großes zweites Bild derselben Farbe auf der Rückseite des Raumes. Erst wenige Schritte davor verwandelt es sich für den Besucher erkennbar zum Ausgang in Form eines ebenso scharf geschnittenen Torbogens wie es sein Pendant weiter oben darstellt.

Ein Teil der Beleuchtung verbirgt sich hinter der mit lichtdurchlässiger Folie der Firma Rentex verkleideten seitlichen Balustrade respektive auf der ebenfalls mit Folie verkleideten Unterseite der Rampe. Der Rest ist für den Besucher verborgen im Raum installiert. Turrell verrät nur so viel: 275 einzeln steuerbare LED-Beleuchtungsstäbe sind für das Lichtspektakel verantwortlich. Zwei an der Rampe beziehungsweise im „Sensing Space“ lokalisierbare Farbkreisläufe durchlaufen einander gegenläufig im 20-Minuten-Zyklus die einprogrammierten Töne in all ihren Abstufungen. Alle 7,5 Minuten treffen sich die beiden Kreisläufe, dann leuchtet die Umgebung für kurze Zeit monochrom rot oder blau oder pink dem Gast entgegen.

 

Rissefrei gegen die Regeln der Kunst gebaut

Seine unendliche Raumwirkung verdankt die Installation der Trockenbautechnik, die buchstäblich gegen jede Regel der Kunst ausgeführt wurde: So findet sich in der 2600 m2 großen, aus Gipsplatten verbundenen Fläche keine einzige Dehnungsfuge. „Nach Industrienorm kann bezeihungsweise darf man so etwas gar nicht bauen“, lacht Rüdiger Steib, Geschäftsführer der Steib Systembau GmbH. Doch Turrell forderte genau das: Eine riesige Fläche aus einem homogenen Material – Gipsplatten – die ohne jegliche, die Homogenität störende Fuge, gebaut und rundum verspachtelt werden sollte.

Die Basis des Raumkunstwerks setzt sich aus dem vom Kunstmuseum Wolfsburg selbst entwickelten Stellwandsystem zusammen. Das auf einem Gerüst aus Aluminiumleitern basierende und mit Tischlerplatten bekleidete System ermöglicht es, frei tragende Wandstücke bis zu 6 m Einzelhöhe – mit Über-Eck-Verbindung gar bis zu 12 m Einzelhöhe – zu beliebigen Räumen zu verbinden. Die Monteure beplankten diese Basiskonstruktion für das Ganzfeld Piece nochmals mit Knauf Horizonboard. Statt diese zu verschrauben, wählten sie Klammern als Verbindungsmittel, um so eine möglichst hohe Elastizität der Kraftübertragung zu garantieren. Die Stöße wurden mit dem Fugendeckstreifen Kurt abgedeckt und mit Trias verspachtelt (beides von Knauf). Zuletzt wurden die fertigen Ebenen grundiert und airless gespritzt. Die Decke des Raumkunstwerkes hängt an einem Gerüst aus Fichte-Leimhölzern, die wiederum über Stahlseile an der Stahlkonstruktion des Dachtragwerks vom Museumsgebäude abgehängt wurden. Höhengleich mit der Unterkante der Leimholzbinder sind freitragende CD-100-Profile im 3 m Abstand montiert, die wiederum mit einer Lage Horizonboard beplankt sind. Die Oberflächenbehandlung der Decke entspricht der der Wände. Der Fußboden des Raumkunstwerks besteht aus einer Doppelbodenkonstruktion aus Konstruktionsvollholz. Diese ist mit 22 mm dicken OSB-Platten beplankt und zweilagig mit jeweils 12,5 mm dicken kreuzweise verleimten Trockenunterbodenplatten belegt. Danach wurde diese Konstruktion mit Knauf Uniflott verspachtelt, grundiert und beschichtet.

 

Hier trifft Kunst auf Technik

Ihre unendliche Wirkung verdankt die Konstruktion der Ausleuchtung – und den gerundeten Wandkanten. Auf 22 m Gesamtlänge laufen die im Knauf-Werk vorgefertigten Anschlusskanten zwischen Boden, Wänden und Decke des „viewing space“ fließend von den im Radius von 50 cm gerundeten Eckstücken am einen Ende zu den regulär üblichen scharfkantigen Schnittlinien am anderen Ende hin aus.

„Genau dieser fließende Übergang bereitete anfänglich enormes Kopfzerbrechen“, erklärt Steib, „bis Turrells Herausforderung die Kreativität aller sehr angespornt hat“, lacht er. Der „sensing space“ schließlich verdankt seine grenzenlose Raumwirkung seitlich beziehungsweise an der Decke verlaufenden und von Hand vor Ort gefertigten Übergangsstücken, die im 2 m-Radius gerundet sind. Perfekt ausgeleuchtet, lassen sie diesen rund 8 m hinter dem „viewing space“ endenden und etwa 1 m höheren beziehungsweise tieferen, für den Betrachter aber nicht messbaren Vorraum wie eine unendliche Erweiterung wirken.

Dass eine solche Kunstinstallation in Deutschland überhaupt möglich wurde, ist dem Kunstmuseum Wolfsburg selbst zu verdanken. Zum einen dem Bauwerk, das hinter seinen Außenwänden eine 40 x 40 m große und 16 m hohe Halle verbirgt – der größte Ausstellungsraum in Deutschland überhaupt. Zum anderen aber dem Mut, der Vorstellungskraft und dem Durchhaltevermögen des Geschäftsführers und des Direktors, die nach dem ersten Nein von Turrell auf sein Gesuch, ein Projekt in Wolfsburg durchzuführen, nicht aufgaben. Turrell hatte zuvor verkündet, dass er vor der in zwei Jahren in New York geplanten Retrospektive seines Lebenswerks kein Museumsprojekt mehr angehen wollte. Doch Schaper schickte ihm einfach die Baupläne des Kunstmuseums Wolfsburg mit der darin integrierten enormen Halle. Als Antwort kam eine Handskizze: ein Schnitt durch das Raumkunstwerk mit zugehörigem Grundriss – und einer einzigen Maßangabe. Auf dieser Basis erarbeitete er eine Kostenschätzung, erstellte eine Machbarkeitsstudie – und lud schließlich Turrell ein, um die Details zu besprechen. Der kam, gab seine Zustimmung für das Projekt, flog in sein Heimatland USA zurück und ließ die Wolfsburger das Projekt selbst realisieren.

Für die einzelnen Schritte – von der ersten Schraube bis zum Tag der Eröffnung – hatte das Team gerade einmal vier Wochen Zeit. Bis zu 30 Personen werkelten daher Tag und Nacht, um die Vorstellung des Künstlers in die Realität umzusetzen. Der Künstler selbst reiste erst eine Woche vor der Eröffnung nochmals an, um zusammen mit einem Lichttechniker die Beleuchtung abzustimmen. Während jener – ein zu den internationalen Spitzenkräften gehörender Profi – an seinem Mischpult Köpfe drückte, Regler schob und auf Anweisung des Künstlers schaltete und waltete, ließ sich Turrell auf den Treppenstufen vor der Pforte zum Ausgang des Ganzfeld Piece nieder und senkte langsam die Augenlider. Dann begann er mit seiner eigentlichen Arbeit. Er horchte in den Raum und fühlte mit geschlossenen Augen, welche Farben den gewünschten Raumeindruck wiedergaben und wann sie in Ton und Intensität optimal waren. Mit geschlossenen Augen sehe er besser, lautete seine Erklärung gegenüber den Technikern ringsherum. Es gibt eben Fähigkeiten, von denen viele gar nicht wissen, dass sie existieren.

Ein Teil der Beleuchtung verbirgt sich hinter einer lichtdurchlässigen Folie

Statt die Platten zu verschrauben, wählten die Monteure Klammern als Verbindungsmittel

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