Dämmen mit Seegras

Neptunbälle gelten an vielen Mittelmeerstränden als Plage. Auch Richard Meier ärgerte sich über die braunen Filzkugeln – bis er sie als Ökodämmstoff entdeckte. Heute dämmt der umtriebige Gründer mit dem „Meeresabfall“ Einfamilienhäuser, Kindergärten und Schulen.

Man sieht Professor Richard Meier sein Hobby an: Der 67jährige trägt Jeans und Sneakers, ein kurzärmliges Hemd, dazu zerzauste graue Haare und Vollbart, die Haut ist braungebrannt: Meier ist begeisterter Kitesurfer. 15 Jahre unterrichtete er an der SRH Hochschule Heidelberg Architektur und Denkmalpflege. Danach wäre er am liebsten nur noch mit seinem Board über Wellen geritten, doch daraus wurde nichts. „Schuld“ ist ein Ökodämmstoff, den er 2006 ausgerechnet beim Kitesurfen an der Costa Blanca entdeckte.

Ein Naturprodukt mit vielen positiven Eigenschaften

Die Wellen hatten braune Filzknödel an den Strand gespült: so genannte Neptunbälle. An den Küsten Süditaliens, Tunesiens, Albaniens oder Griechenlands bedecken sie ganze Strände und werden von Baggern abtransportiert. Im Meer haben die Neptunbälle dagegen eine wichtige Aufgabe: „Sie bestehen aus den verwelkten Blattrippen der Posidonia oceanica: Im Meer ist diese Seegrasart Lebensraum für Jungfische und Krebse, reinigt das Wasser von Schadstoffen, speichert CO2 und schützt die Küste vor Erosionen durch Welleneinschläge“, weiß Richard Meier.

Aber an Land? „Nicht mal verbrennen kann man das Zeug“, sagte ein Freund damals am Strand zu Meier. Das ließ den Experten für Baustoffkunde aufhorchen. Er packte einige Proben mit ein und ließ sie vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik prüfen. Die Forscher waren begeistert: Dank ihrer silikathaltigen Strukturen brennen die Fasern der Neptunbälle von Natur aus schlecht. Ein Vorteil gegenüber vielen anderen Ökodämmstoffen, denen Borsalze als Brandhemmer beigemischt werden. Zudem sind sie schimmelresistent, speichern hervorragend Wärme und trocknen schnell: Die Fasern geben Wasser innerhalb von zwei bis drei Tagen wieder ab, ohne Schaden zu nehmen. „Sie kommen ja schließlich aus dem Meer“, sagt Meier schmunzelnd.

Der Weg vom Seegras zum Dämmstoff

Die Seegraskugeln lässt er an Stränden in Tunesien und Albanien von Hand einsammeln und per Schiff und Lkw nach Deutschland bringen. Zwar kostet die Dämmwolle namens NeptuTherm fast das Doppelte wie die gleiche Menge Zelluloseflocken. Dafür bekommt man ein hundertprozentiges Naturprodukt. Trotz des Transports ist der Primärenergieverbrauch für die Herstellung – inklusive Transport und Verarbeitung – deutlich niedriger als bei anderen Dämmstoffen: Geschüttet oder gestopft fallen nur 37 kWh/m3 an, eingeblasen 50 kWh/m3. Zum Vergleich: Bei einer Holzweichfaserplatte liegt der Aufwand bei 600 bis 1500 kWh/m3. Kein Wunder, das Material wird fast einbaufertig an Land geschwemmt: Ein Sieb rüttelt nur noch den Sand aus den Poren, bevor der Häcksler die Kugeln zu Fasern zerkleinert.

Für die Produktion hat Richard Meier eine Lagerhalle in Karlsruhe angemietet: Auf dem Hallenboden stapeln sich rund 1000 Säcke voll mit Seegras – in der Mitte die noch unberührten Bälle, an der Längswand die zerhäckselten Naturfasern. „Damit dämmen wir morgen die oberste Geschossdecke einer Schule in Krefeld“, sagt Richard Meier und greift sich einen der Kiwi-förmigen Bälle. Meiers Leute transportieren die zerkleinerten Fasern in wasserdichten, mehrmals wiederverwendbaren Plastik-Pfandsäcken auf die Baustelle, stopfen oder blasen sie in Dächer, Innen- und Außenfassaden oder schütten sie auf Geschossdecken. Mehr als ein Dutzend Einfamilienhäuser, einen Kindergarten und zwei Schulen dämmt der „Meeresabfall“ schon.

Besonders gut eignet sich der Dämmstoff als Schüttung auf der obersten Geschossdecke: „Das ist unsere Paradedisziplin: Hochbringen, ausschütten, verteilen, fertig“, sagt Richard Meier. Aber auch Hohlräume zwischen Sparren und in Holzskeletten dämmen die Naturfasern. Bei Neubauten beplankt man die Träger innen mit einer Dampfbremse und außen mit Schilf- oder Holzwolledämmplatten und füllt den Zwischenraum mit NeptuTherm aus. Die spätere Entsorgung ist unproblematisch: Werden die Fasern nicht mehr in einem anderen Gebäude verwendet, harkt man sie zum Bodenauflockern einfach unter die Gartenerde.

Kunden mit hohen Ansprüchen

Die lupenreine Ökobilanz hat jedoch ihren Preis: Mit 130 bis 140 Euro/m3 für Handwerker und 150 bis
165 Euro/m3 für Endkunden gehört NeptuTherm zu den teuersten Dämmstoffen. „Wir sprechen ein spezielles Klientel an“, sagt Richard Meier: „Ökologisch orientierte Bauherren mit hohem Bildungsstand, gutem Einkommen und oft mit kleinen Kindern. Leute, die im Reformhaus oder Biohof einkaufen und bereit sind, etwas mehr auszugeben für ein nachhaltiges Leben.“

Seine Kunden haben hohe Ansprüche an Qualität und Glaubwürdigkeit. Daher prüft Meier regelmäßig, ob die Arbeitsbedingungen beim Einsammeln des Dämmstoffs wirklich fair sind: „In Albanien beschäftigen wir Tagelöhner, in Tunesien Frauen, die nach der Orangen- und Olivenernte keine Arbeit haben.“

Investitionen in Forschung und Entwicklung

Reich wird Meier mit seiner Entdeckung allerdings nicht: Mehr als die Hälfte der rund 750 000 Euro für Produktentwicklung, Forschung, Zulassung und Patente hat der emeritierte Professor privat finanziert. Alle Preisgelder, die er für seinen Baustoff gewann – etwa den Preis der Ikea-Stiftung oder den Umweltpreis 2013 der Sparkasse Pforzheim-Calw – flossen zurück in die Forschung. „Wenn ich nicht meine komplette Altersvorsorge aufs Spiel setzen will, brauche ich Partner.“ Richard Meier sucht nach Investoren oder erfolgreichen Unternehmen, die sich an seinem Startup beteiligen. Ein möglicher Anreiz: NeptuTherm wird als „förderfähiges Unternehmen“ im Rahmen des Programms „INVEST – Zuschuss für Wagniskapital“ von der Bunderegierung gelistet. Dabei können bis zu 250 000 Euro pro Investor mit 20 Prozent bezuschusst werden. Denkbar wäre auch ein Crowdfunding, um die finanzielle Last auf mehrere Schultern zu verteilen.

Zusätzliches Kapital ist dringend nötig. Zwar machte NeptuTherm 2014 rund 130 000 Euro Umsatz und verbaute etwa 1000 m3 Dämmstoff. Um rentabel zu sein, müsste sich der Umsatz jedoch mindestens verdoppeln. Genug Nachschub wäre da, meint Meier: „Nach meinen Recherchen lassen sich pro Jahr problemlos rund 50 000 m3 Seegraskugeln ernten.“

Meier hat mit NeptuTherm noch Einiges vor: Bis 2019 will er die Produktionsmenge mit neuen Produkten verzwanzigfachen. In den nächsten zwei Jahren soll eine 100 Prozent naturreine, flexible Schalldämmmatte aus Seegras auf den Markt kommen, die sich unter anderem für abgehängte Decken eignet. In ersten Versuchen an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden und am Fraunhofer-Institut für Bauphysik stellten die Forscher hervorragende Luft- und Trittschallschutzwerte fest, die sogar das aktuell beste Produkt für Luftschallschutz – eine 50 mm dicke Melaminharzschaummatte – übertrafen. Zudem forscht er mit Industriepartnern an einer harten, mineralisch gebundenen Platte aus Seegras, die sich als Putzträgerplatte, Innen- oder Kellerdeckendämmung einsetzen ließe. „Mit den unterschiedlichen Produkten könnten wir fast alle Dämmaufgaben im Bauwesen abdecken“, sagt der umtriebige Gründer.

Selbst die „Abfallstoffe“ des Seegrases – 60 Kilo Sand und Faser-Feinteile pro Kubikmeter – will er in Zukunft sinnvoll verwerten: als Streumittel „NeptuGrip“ gegen Eis und Schnee. „Das Zeug bremst wahnsinnig gut!“

Autor

Dipl.-Ing. Michael Brüggemann studierte Architektur in Detmold und Journalismus in Mainz. Er arbeitet als Redakteur und schreibt außerdem als freier Autor unter anderem für stern, DBZ, bauhandwerk und dach+holzbau.

Der Dämmstoff aus Seegras ist ein 100prozentiges Naturprodukt

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