Umnutzung eines Lagerhauses in Tübingen in ein Gerichtsgebäude
In Tübingen haben Dannien Roller Architekten ein denkmalgeschütztes Kammergebäude der ehemaligen Thiepval-Kaserne in ein modernes, offenes, lichtdurchflutetes Amtsgericht verwandelt – und dabei einige konstruktive Herausforderungen gemeistert.
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Das Kammergebäude der ehemaligen Thiepval-Kaserne wird außen nach wie vor von den hell verputzten Backsteinfassaden und horizontalen Klinkerbändern geprägt
Foto: Dietmar Strauß
Das ehemalige Kasernengelände liegt in der Tübinger Südstadt in Sichtweite des Hauptbahnhofs. Insbesondere die ungewöhnliche Architektur des historischen Hauptbaus von 1875 fällt ins Auge: Er wurde mit Stilmerkmalen italienischer Kastelle errichtet. Wesentlich schlichter ist dagegen das Lagergebäude, das im Jahr 1907 errichtet wurde und sich als zurückhaltend ornamentierter Backsteinbau auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen Wohngebäuden erstreckt. Seit 1980 wird der gesamte Gebäudekomplex der Kaserne ausschließlich zivil genutzt; 2017 beschloss man im Zuge der Notariatsreform, das Lagergebäude zum neuen Sitz des Nachlass-, Betreuungs- und Insolvenzgerichts umzubauen.
Für die beauftragten Architekten Dannien Roller, die in ihrem Büro in der Tübinger Altstadt Planen und Entwerfen, stellte sich die grundlegende Frage, wie man einen denkmalgeschützten militärischen Bau zu einem offenen Ort ziviler Rechtsprechung verwandelt und zugleich den baulichen Charakter erhalten kann. Geprägt ist das Erscheinungsbild des Gebäudes von den hell verputzten Backsteinfassaden und horizontalen Klinkerbändern, die dem an sich einfachen Bau hohe gestalterische Qualität verleihen. Die Fassaden waren in gutem Zustand und wurden von den Handwerkern nur gereinigt und neu gestrichen, die Klinker-Elemente überarbeitet und sandgestrahlt. Auch hinsichtlich räumlicher Organisation und Tragstruktur bot das Haus großes Potenzial für die neue Nutzung: Das rund 37 m lange, 16 m breite, dreigeschossige Gebäude basiert auf einem funktionalen Stahlbetonskelett, das große Flexibilität in der Raumunterteilung ermöglicht, ebenso wie die Erschließung durch die Treppenhäuser an beiden Stirnseiten.
Schäden am Tragwerk durch frühere Nutzungen
Doch bei genauerem Betrachten zeigten sich schnell die erheblichen Schäden, die die Bausubstanz und insbesondere das Tragwerk durch die vorherigen Nutzungen erlitten hatten. Das Gebäude diente ursprünglich als Fahrzeughalle und Munitionslager, nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst auch als Zwischenunterkunft für Flüchtlinge.
Besonders die frühere Nutzung als Wäscherei hat dazu geführt, dass ein Teil der inneren Tragstruktur aus Stahlbeton seine Tragfähigkeit verloren hat und deshalb ersetzt werden musste
Fotos: Dietmar Strauß
Danach nutzte eine Wäscherei jahrelang den hallenartigen Raum des Erdgeschosses – mit Folgen. Denn die Dämpfe ließen den Beton porös werden, so dass der Bewehrungsstahl angegriffen war und die Tragfähigkeit der Konstruktion für die neue Nutzung nicht mehr gewährleistet war. Insbesondere die Plattenbalkendecke über dem Erdgeschoss – mit Unterzügen und nur 8 cm dicker Deckenplatte mit einer Lage Bewehrungsstahl war stark beschädigt. Da die beiden oberen Etagen weniger Schäden aufwiesen, sollte das Gebäude nicht komplett entkernt werden. Wesentliche Teile des Stahlbetontragwerks ersetzen zu können, ohne die bestehende Bausubstanz zu gefährden, bedeutete allerdings einen erheblichen Aufwand für Planung und Realisierung.
Da die Stützen im Erd- und ersten Obergeschoss abgeschnitten werden mussten, wurden die Lasten aus den Obergeschossen während der Umbauarbeiten vorübergehend durch etwa 130, über 7 m hohe Aluminiumsprieße abgefangen
Foto: Dietmar Strauß
Der größte Eingriff war, die Decke komplett rückzubauen, weil damit auch die Stützen im Erdgeschoss und ersten Obergeschoss abgeschnitten werden mussten. Deshalb wurden die Lasten aus den Obergeschossen vorübergehend durch etwa 130, über 7 m hohe Aluminiumsprieße abgefangen, die wiederum auf Behelfsfundamente standen. Für die Durchdringungspunkte der Sprieße schnitten die Handwerker zunächst runde Löcher in die Bestandsdecke. Abbruch und Neuaufbau der Decke mit Stahlbetonteilen erfolgten in drei Abschnitten, um Kosten für die Sprieße zu sparen. Dabei wurde jeder Teil vollständig fertiggestellt, bevor das nächste Teilstück abgerissen wurde.
Reminiszenz an den Altbau
Vollverglast bilden die beiden Torbögen heute den Haupteingang in das Gerichtsgebäude
Foto: Dietmar Strauß
Nur im Flur verläuft eine abgehängte Decke, die die Installationsstränge verbirgt. Ansonsten prägen die Sichtbetonflächen die Räume – und zitieren das Raue und Ruppige der ursprünglichen Fahrzeughalle. Um die Farbunterschiede der nachträglich verfüllten Deckenaussparungen für die Sprieße zu überspielen, planten die Architekten mithilfe von in die Schalung eingelegten Trapezleisten ein Linienraster, das sich als starke Gliederung über die gesamte Deckenuntersicht zieht.
Auch die neu eingefügten Stützen im Erdgeschoss sorgen entlang der Sitzungssäle für eine Rhythmisierung. Eine Schmalseite der asymmetrisch sechseckigen Stahlbetonstützen wurde von den Handwerkern gestockt, was einen Schatteneffekt bewirkt und auch an die Haptik der früheren Konstruktion erinnert.
Da die bestehenden Fundamente ausgetauscht werden mussten, wurde die neue Bodenplatte leicht abgesenkt, was nun einen barrierefreien Zugang auch direkt vom Haupteingang an der Straßenseite ermöglicht.
Lichtdurchflutetes Inneres
Foto: Dietmar Strauß
Man betritt das Gebäude durch die beiden vollverglasten historischen Torbögen unter dem neuen, dezenten Schriftzug „Amtsgericht“. Hierzu brachen die Handwerker das Brüstungsmauerwerk der hier zuvor eingebauten Rundbogenfenster ab und öffneten die Torbögen auf voller Höhe. Um die bestehende Kubatur des Gebäudes zu respektieren, ist der Windfang als Holz-Glas-Konstruktion im Innerem platziert. Das anschließende großzügige, mit Sitzbänken gestaltete Foyer vermittelt als zentraler Raum zwischen den beiden Sitzungssälen und Schulungsbereichen. Die beiden Bestandstreppenhäuser führen in die Obergeschosse mit den Arbeitsräumen der Richter und Mitarbeiter entlang der Fassaden, die großteils die bestehende Raumstruktur wahren. Die neuen Ergänzungen in Material und Konstruktion sind in klaren, reduzierten Formen eingefügt, wie die „Begegnungsinseln“ in der Mittelzone, die auch eine Küchenzeile aufnehmen. Um eine Fülle von Licht ins Innere zu holen und es einladend und offen zu gestalten, bauten die Handwerker die vier ehemaligen hölzernen Garagentore auf der Gebäuderückseite aus und ersetzten sie durch Verglasungen. So versorgen die fast raumhohen Glasflächen nicht nur die Gerichtssäle und Besprechungsräume mit Tageslicht, sondern auch das Foyer – über die transluzenten Trennwände, die es als weiches Streulicht weiterleiten. Sie sind ausreichend blickdicht, um die Privatsphäre während der Verhandlungen zu wahren, und schotten doch die Räume nicht ab. Die offene, helle Atmosphäre und der unprätentiöse und zugleich selbstbewusste Charakter des Hauses stehen für das Selbstverständnis der Institution. Klarheit und Transparenz erzeugen die Architekten mit reduzierter Materialsprache, mit warmen Materialien und Farbtönen sowie ruhigen Oberflächen. Die Einbaumöbel und Wandbekleidungen bestehen aus Eichenholz und stehen in reizvollem Kontrast zu den rau verputzten Wänden und dem geschliffenen, terrazzoähnlichem Sichtestrich. Subtile Details entwickelten die Architekten auch für die Holzfenster, die originalgetreu ersetzt wurden und in den freigelegten, gerundeten Laibungen platziert sind. Der hohe U-Wert der Fenster erforderte eine innenseitige Dämmung der Laibung mit Silikatplatten, die die ursprüngliche Rundung übernehmen.
Fazit
Mit dem denkmalsensiblen Umbau haben Dannien Roller Architekten ein wichtiges bauhistorisches Gebäude beispielhaft an eine neue Nutzung angepasst und ein zeitgemäßes, offenes Haus geschaffen – und auch hier zeigt sich das Potenzial vorhandener Bausubstanz im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung.
AutorinDipl.-Ing. Claudia Fuchs studierte Architektur an der TU München. Sie arbeitet als freie Redakteurin und Autorin unter anderem für die Zeitschriften Detail, Baumeister, dach+holzbau und bauhandwerk.
Baubeteiligte (Auswahl)
Architekten
Dannien Roller Architekten + Partner, Tübingen, www.dannien-roller-architekten-partner.de
Statik
IB Knaak + Reich, Reutlingen, knaak-reich.de
Abbrucharbeiten
AED Abbruch, Lorch, aed-abbruch.de
Rohbauarbeiten
S. Krasniqi, Gomaringen, s-krasniqi.de
Gerüstbauarbeiten
Mack Gerüsttechnik, Schönaich, mack-geruesttechnik.de
Trockenbauarbeiten
I. B. W. Jamborek, Renningen, www.jamborek-services.de
Abdichtungsarbeiten
Dachdecker Wachter, Tübingen, www.dachdecker-wachter.de
Zimmerarbeiten
ARGE Stopper & Hönle, Rottenburg, www.zimmereistopper.de
Holzfensterbau
Schreinerei Schuler, Rechtenstein, www.schreinerei-schuler.com
Schreinerei Rogg, Bernau, www.rogg-tueren.de
Malerarbeiten
Malerbetrieb Marc A. Schweizer, Filderstadt, maler-marcschweizer.de
Putzarbeiten
Dietmar Huonker Gipser und Stuckateur, Rosenfeld, heuberg-gipser.de
Tischlerarbeiten
Alender Innenausbau Systeme, Zell am Harmersbach, www.alender.de
Schreinerei Klink, Tübingen, www.schreinerei-klink.de
Firma Dreier, Iffezheim, dreier-gmbh.de
Herstellerindex (Auswahl)
Trennwandsysteme
Siniat, Etex Building Performance, Ratingen, www.siniat.de
Akustikdecken
Hunter Douglas Architectural, Rotterdam, www.hunterdouglasarchitectural.eu
Wandbeschichtung
Keimfarben, Diedorf, www.keim.com
Fenster
PaX, Ingelheim, www.pax.de