9,4 Millionen Wohnhäuser in Deutschland sind „Astbest-Fallen“
IG Bau und BG Bau appellieren für mehr Aufklärung und besseren Schutz vor Asbest. Die IG Bau legte eine „Asbest-Charta“ vor. Gefordert werden beispielsweise ein Gebäudepass und eine Sanierungsprämie. Maurer Wolfgang Leihner-Weygandt erkrankte an Lungenkrebs und schildert sein Schicksal.
Einst als „Wunderbaustoff“ millionenfach verbaut, jetzt eine erstzunehmende Gesundheits-Gefahr: Laut der IG Bau rollt eine „Asbest-Welle“ in Deutschland heran. Denn in 9,4 Millionen Wohnhäusern, die von 1950 bis 1984 gebaut wurden, lauert die unsichtbare Falle. „Wohnraum wird gebraucht, Das ist unstrittig. Es müssen aber all jene geschützt werden, die Wohnungen schaffen!“ forderte Carsten Burckhardt. Er ist im Bundesvorstand der IG Bau für die Bauwirtschaft und den Arbeitsschutz zuständig. Die Gewerkschaft informierte gemeinsam mit der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG Bau) in einer Pressekonferenz in Berlin über den krebserregenden Stoff und legte eine „Asbest-Charta“ vor.
Carsten Burkhardt vom Bundesvorstand der IG Bau stellte die „Asbest-Charta“ vor, in der fünf Forderungen formuliert sind.
Foto: Alireza Khalili / IG Bau
„Wir stehen am Anfang von zwei Sanierungsjahrzehnten. Die energetische Gebäudesanierung wird enorm an Fahrt aufnehmen. Asbest ist eine Gefahr – für Bauarbeiter genauso wie für Heimwerker“, so Burckhardt. Die krebserregende Mineralfaser stecke in vielen Baustoffen: Asbest ist oft im Putz und sogar in Spachtelmassen und Fliesenklebern“, sagte Carsten Burckhardt. Ein großes Problem sei Spritz-Asbest: „Hier sind die Asbestfasern schwächer gebunden. Sie können deshalb leichter freigesetzt werden. Vor allem Aufzugsschächte sowie Schächte mit Versorgungs- und Entsorgungsleitungen wurden früher intensiv mit Spritzasbest verkleidet“, erläuterte er.
„Bundesweit gibt es gut drei Millionen Wohnungen, die in den vier Jahrzehnten ab 1950 in Mehrfamilienhäusern mit 13 und mehr Wohnungen neu gebaut wurden. Bei einer Sanierung im bewohnten Zustand ist es wichtig, hier mit allergrößter Sorgfalt professionell vorzugehen“, mahnt der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther.
4,35 Millionen Tonnen Asbest wurden importiert
IG Bau und BG Bau sprachen bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin über die große Asbest-Gefahr
Foto: Alireza Khalili / IG Bau
Insgesamt sind nach Angaben des Pestel-Instituts von 1950 bis 1990 rund 4,35 Millionen Tonnen Asbest (Ost- und Westdeutschland) importiert worden. Daraus seien rund 3 500 Produkte hergestellt worden – die meisten davon für den Baubereich. „73 Prozent des Asbestes gingen in die Produktion von Asbest-Zementprodukten: Aus rund 32 Millionen Tonnen Asbest-Zement entstanden vor allem Rohre, Fassadenverkleidungen und Dacheindeckungen – die alten Eternitplatten“, so Burckhardt.
Aus technischer Sicht bringen Asbest-Fasern viele gute Eigenschaften mit. Sie seien feuerfest, verschleißresisent und zugfest. In allen Bereichen eines Hauses, vom Keller bis zu Dachböden seien Asbest-Produkte verbaut worden und schlummern vor sich hin. 1993 wurde Asbest als Baustoff verboten. „Asbestfasern sind unsichtbar. Das ist tückisch. Bis zum Ausbruch einer Krankheit können vielen Jahren vergehen. Arbeit darf aber nicht krank machen. Alle auf dem Bau müssen über die Gefahr informiert werden“, sagte Burckhardt.
Die IG Bau beklagt eine Zunahme bei Asbest-Erkrankungen: „Bei den Berufskrankheiten ist Asbest die häufigste Todesursache“, sagte Carsten Burckhardt. Er beruft sich dabei auf aktuelle Zahlen der Bau-Berufsgenossenschaft. In den vergangenen zehn Jahren seien 3376 Versicherte der BG Bau infolge einer asbestbedingten Berufserkrankung gestorben – darunter allein 320 Baubeschäftigte im vergangenen Jahr.
Asbest-Warnungen, die alle Arbeitnehmer verstehen
Die Bau-Gewerkschaft fordert deshalb eine intensive Asbest-Aufklärung: „Bauarbeiter und Heimwerker müssen wissen, wie der optimale Schutz vor Asbest aussieht. Und das muss den Menschen in der Sprache gesagt werden, die sie verstehen – den ausländischen Beschäftigten also auch in ihrer Muttersprache“, sagte Carsten Burckhardt.
Laut Dr. Thomas Solbach, Arbeitsmediziner der BG Bau, bleiben Asbest-Stäube bis zu 24 Stunden im Raum. Daher bestehe nicht nur eine direkte Gefahr für Handwerker, sondern auch für weitere Personen. „Die Latenzzeit beträgt 30 bis 50 Jahre. Asbest kann Kehlkopfkrebs, Eierstock-Krebs oder auch den besonders bösen Tumor Mesotheliom auslösen“, so Solbach.
Wolfgang Leihner-Weygandt war als Maurer Asbest-Stäuben ausgesetzt und erkrankte an Lungenkrebs. Er warnte vor einem sorglosen Umgang mit dem mittlerweile verbotenen Baustoff
Foto: Alireza Khalili / IG Bau
Eindringlich schilderte Wolfgang Leihner-Weygandt, gelernter Maurer und Fachkraft für Arbeitssicherheit im Ruhestand, sein Schicksal. Er erkrankte an Lungenkrebs durch Asbest. „Ich habe Zementfaserplatten zersägt und die Stäube eingeatmet. Ich habe auch mit Spachtelmassen gearbeitet, ohne zu wissen, dass diese auch Asbest enthalten. Generell hat uns damals niemand über die Gefahren aufgeklärt“, betonte er. In den 80er Jahre hörte er auf und wechselte in die Arbeitssicherheit. „1994 bekam ich plötzlich starke Schulterschmerzen. Nachdem ich bei mehreren Orthopäden war, war schließlich klar, dass ich einen Tumor im rechten Lungenflügel hatte.“ Er wurde operiert und überlebte, hat aber ein verkleinertes Lungen-Volumen. Beim Treppensteigen geht ihm die Luft aus. „Nutzt die Schutzausrüstungen, die es gibt! Und wendet sie richtig und konsequent an. Das bedeutet: Klopft die Anzüge nach der Arbeit nicht einfach ab, sondern lasst Euch von einem Kollegen absaugen“, appellierte er an seine Kollegen auf den Baustellen.
Michael Kirsch, stellv. Hauptgeschäftsführer der BG Bau, stellte die Schutzpakete „Bauen im Bestand“ vor. Ein praxistauglicher Schutz vor Asbest sei möglich. Es gibt beispielsweise Schutzanzüge, Masken, Handmaschinen mit Absaugung, Luftreiniger und Staubschutztüren. „Jeder Handwerker hat die Pflicht, auch mal Nein zu sagen“, verwies Kirsch auf die Info-Pflicht der Arbeitsgeber. Sie müssen eine Gefährdungsbeurteilung erstellen und Schutzmaßnahmen festlegen.
IG Bau stellte ihre „Asbest-Charta“ vor:
1. Die Gewerkschaft fordert einen Schadstoff-Gebäudepass mit unterschiedlichen Gefahrenstufen für die jeweilige Asbest-Belastung eines Gebäudes. „Jeder Bauarbeiter und jeder Heimwerker muss wissen, auf was er sich einlässt, wenn er Fliesen abschlägt, Wände einreißt oder Fassaden saniert“, so Carsten Burckhardt. Eine solcher Gebäude-Pass gibt es beispielsweise in Frankreich. Noch umfassender und deshalb ratsam wäre gleich ein Schadstoff-Gebäudepass, der neben Asbest-Belastungen auch andere Schadstoffe (z.B. Holzschutzmittel) ausweist.
2. Ein „Asbest-Gipfel“ von Bund, Ländern und Kommunen muss einberufen werden. Eine übergreifende staatliche Kooperation sei notwendig, um das Asbest-Problem und die Finanzierung der Altlasten auf möglichst breiter Ebene anzugehen.
3. Burckhardt fordert zudem eine staatliche Sanierungsprämie. Dazu müsse der Bund ein KfW-Förderprogramm „Asbest-Sanierung“ schaffen. „Das hilft, Kosten abzufedern, die bei einer – beispielsweise energetischen oder altersgerechten – Gebäudesanierung in asbestbelasteten Wohnhäusern zusätzlich entstehen. Außerdem ließe sich damit auch eine ordnungsgemäße Entsorgung von alten Asbest-Baustoffen sicherstellen.“
4. Durch eine Informations-Offensive muss der Arbeitsschutz in den Fokus rücken. Hier ist vor allem auch eine Aufklärungskampagne notwendig, die sich an Baubeschäftigte genauso wie an Heimwerker richtet. Es gilt, vor den Gefahren zu warnen und über den fachlich richtigen Umgang mit Maschinen und Schutzausrüstungen zu informieren. Mit Blick auf die Beschäftigtenstruktur in der Baubranche ist es erforderlich, zentrale Informationen auch in anderen (vor allem osteuropäischen) Sprachen bereitzustellen.
5. Letztlich plädiert die IG Bau für mehr Arbeitskontrollen. „Wir haben ein klares Defizit bei den staatlichen Arbeitsschutzkontrollen. Es kann nicht sein, dass sich ein Kontrolleur im Moment – rein rechnerisch – um den Arbeitsschutz von rund 23.000 Beschäftigten kümmert. Und das, obwohl die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) eigentlich eine Quote von einem Kontrolleur für maximal 10.000 Beschäftige fordert“, so Carsten Burckhardt. Zudem müssten die Länder Baustellen bei ihren Kontrollen stärker als bislang in den Fokus nehmen und beim Asbest-Arbeitsschutz einen Schwerpunkt setzen.
Autorin
Michaela Podschun ist Redakteurin der Zeitschriften bauhandwerk und dach+holzbau.
Thema Asbest beim 1. Fachkongress Bauen im Bestand 2023
Dem Thema Asbest werden gleich mehrere Vorträge beim 1. Fachkongress Bauen im Bestand 2023 gewidmet. Am 7. und 8. November 2023 veranstaltet der Bauverlag gemeinsam mit seinen Marken bauhandwerk, dach+holzbau,THIS, metallbau und Facility Management in Kooperation mit der BG Bau im Landschaftspark Duisburg-Nord den 1. Fachkongress Bauen im Bestand 2023. Ziel ist es, allen Verantwortlichen und Beteiligten – Planern, SiGeKos, Bauleitern, Bauausführenden, Handwerkern, Facility Managern, Wohnungsbaugesellschaften – Lösungen zur Staub- und Gefahrstoffvermeidung bei Umbau- und Sanierungsarbeiten aufzuzeigen. Der Kongress findet im Landschaftspark Duisburg-Nord statt, einem ehemaligen Stahlwerk, das heute als Event- und Veranstaltungslocation genutzt wird.
Jetzt anmelden: https://bauverlag-events.de/event/fachkongress-bauen-im-bestand