Umnutzung des Güterbahnhofs Gare Maritime in Brüssel

Der ehemalige Güterbahnhof Gare Maritime in Brüssel wurde durch den Einbau von zwölf viergeschossigen Holzpavillons zu einem modernen Arbeits-, Geschäfts- und Ausstellungszentrum. Die Montage der Holzbauteile vor Ort und die beengte räumliche Einbausituation erforderten eine gute Planung.

Der ehemalige Güterbahnhof Gare Maritime liegt im Nordwesten des Brüsseler Altstadt in unmittelbarer Nähe zum Brüsseler Kanal. Der zwischen 1902 und 1907 errichtete Umschlagbahnhof mit einer Länge von rund 280 m und einer Breite von 140 m wurde vom Brüsseler Architekturbüro Jan de Moffarts Architecten saniert und in ein modernes Arbeits-, Geschäfts-, und Ausstellungszentrum mit städtischem Charakter umgebaut. Das historische Bauwerk aus Stahl, Glas und Backstein ist durch den Einbau von 12 Holzpavillons zu einem der größten Brettsperrholz-Projekte Europas avanciert.

Projektentwickler Extensa bat das Architekturbüro Neutelings Riedijk Architects eine Vision für den Umbau und die neue Nutzung des Bahnhofs zu entwickeln. Das Projekt besteht aus zwei Teilen: Zum einen aus der Restaurierung und Instandsetzung der ehemaligen Zughallen. Dieser Auftrag wurde von den Brüsseler Architekten Jan de Moffarts in Zusammenarbeit mit Bureau Bouwtechniek und Ney & Partners BXL übernommen.

Nach dem Abschluss dieser Sanierung wurde das Bauwerk in einer zweiten Phase durch den Einbau von 12 viergeschossigen Holzpavillons nach Plänen von Neutelings Riedijk Architecten räumlich und funktionell umstrukturiert. Auf Basis einer für den Bauträger Extensa entworfenen Nutzungsstudie und dem Flächennutzungsplan entwickelten die Architekten ein Konzept, um die ehemaligen Bahnhofshallen in einen Büro-, Einkaufs-, Gastronomie- und Veranstaltungskomplex mit rund 45 000 m² Bruttogeschossfläche zu verwandeln. Dieses Konzept konnte dank der engen Zusammenarbeit mit dem Bureau Bouwtechniek, Ney & Partners und Züblin Timber als Holzbauunternehmen realisiert werden. 

Überdachte Stadt 

Der langgestreckte Baukörper des ehemaligen Bahnhofs, der als Umschlagplatz vom Gütertransport zwischen der Straße, der Schiene und dem Wasser diente, zeichnet sich durch sieben aneinander gereihte, miteinander verbundene und überdachte Hallen aus. Nach dem Vorbild der spanischen Ramblas wollten die Architekten die hohe, zentrale Haupthalle als überdachte öffentliche Straße mit Plätzen für die Abhaltung von Märkten freihalten. Die zwei seitlich anschließenden, niedrigeren und rund 16 m breiten Nebenhallen wurden als Gärten und Plätze entworfen. Diese Alleen bringen nicht nur Grün ins Bauwerk und verbessern damit das Innenraumklima, sondern schaffen auch eine räumliche Distanz zwischen der Hauptstraße und den Nebenstraßen der Geschäfts- und Bürozonen. In den an die Grünstreifen anschließenden, hohen Seitenhallen wurden die Holzgebäude errichtet. 

Modulares Bausystem – bei Bedarf demontierbar 

Die Holzpavillons ordnen sich den bestehenden und durch gusseiserne Stützen getragenen Fachwerkträgern des Daches unter. Die Entscheidung für Holzbauten fiel aus verschiedenen Gründen: Zum einen stellt der Gare Maritime ein Prunkstück der industriellen Architektur des frühen 20. Jahrhunderts dar. Mit dem Bau von Holzhäusern wollte der Projektentwickler Extensa bewusst an dieses historische Vermächtnis anschließen. Zum zweiten wollte Extensa nachhaltige Pavillons aus Holz schaffen, sowohl im Sinne des Baustoffs als auch im Sinne einer flexiblen und veränderbaren Nutzung der Gebäude. Die Bauwerke sind als modulares Bausystem entworfen, das bei Bedarf auch wieder demontiert werden kann. 

Wetterunabhängiges Arbeiten 

Zum dritten sprachen verschiedene technische und statische Gründe für Holzbauten: Durch das geringere Gewicht einer Holzkonstruktion gegenüber einer Stahl-, oder Stahlbetonkonstruktion konnte unerwünschten Auswirkungen und Beschädigungen der Tragkonstruktion der Bahnhofshallen und der Fundamente vorgegriffen werden. Ein weiteres, entscheidendes Argument für die Wahl des Baustoffs waren die kurze Planungs- und Bauzeit und der hohe Grad der Vorfertigung. Nicht zuletzt spielten die Montagemöglichkeiten vor Ort eine entscheidende Rolle: Einerseits bot die bereits bestehende Überdachung der Baustelle ideale, weil wetterunabhängige Arbeitsbedingungen. Andererseits konnten durch die geschlossenen Hallendächer keine großen und schweren Maschinen für die Anlieferung und den Bau verwendet werden. Die leichten Holzbauteile wie Balken, Tafeln oder Treppen konnten hingegen mit Hubgeräten von der Straße auf die Höhe der verschiedenen Etagen gebracht werden. 

Keine störenden Stützen 

Die Tragstruktur der Holzbauten wurde aus sicherheitstechnischen und ästhetischen Gründen vom bestehenden Tragwerk entkoppelt. Die Holzbauwerke besitzen eine Pfahl-Plattengründung, wobei die Pfähle nach anfänglichen Bodenuntersuchungen nicht in den Boden geschraubt, sondern gerammt wurden, ohne dass dadurch die Fundamente der Gusseisenstützen oder der Backsteinwände beeinträchtigt wurden. Dabei wurde darauf geachtet, dass die bestehenden Stahlstützen und seitlichen Backsteinwände nicht durch Holzstützen oder -wände verbaut wurden. Daher sind die Glasfassaden der Baukörper um die Gusseisenstützen herum gebaut. Die Geschossdecken wurden entlang der äußeren Backsteinwände in den kleineren Hallen auskragend realisiert, wodurch störende Holzstützen entfallen konnten. 

Fassaden aus Eichenholz 

Mit vertikalen Kanthölzern aus Eiche wurden die Holzbauwerke auf allen Etagen und an allen Seiten verkleidet. Diese kamen unter anderem als Balustraden an den Balkonen in den Obergeschossen, als Fassadenverkleidung unterhalb der Fensterbänder, Geländer der sich kreuzenden Freitreppen und sogar als Akustikdecken in den zentralen Treppenhäusern zum Einsatz. Die Holzfassadenelemente basieren dabei auf einem Maß von 1,20 m. Sie sorgen, ebenso wie die sich wiederholenden Fenster und Türen, für die Harmonie der komplexen Baukörper mit ihren Vor- und Rücksprüngen. Dieter de Vos, Projektleiter bei Neutelings Riedijk Architekten erklärt, dass die Verwendung eines einheitlichen Maßes und die Wiederholung der Fassadenmodule auch einen wirtschaftlichen Faktor darstellt, weil dadurch die Produktion der Fassadenteile effizient gestaltet und die Montage vereinfacht werden konnte.  

Bauseits verschraubte Deckenelemente

Die Bauteile für die zwölf Holzpavillons fertigte man in Deutschland und in Österreich. Die Transportbeschränkungen sowie die gesamte Transportlogistik und Anlieferung und nicht zuletzt die Montagekonditionen vor Ort beeinflussten die Entwicklung des Holztragwerks. Das Tragwerk setzt sich aus Stützen, Trägern und den Boden- und Wandtafeln zusammen. Die Treppen und Treppenhäuser wurden ebenfalls aus Brettsperrholzplatten gefertigt und dienen der Aussteifung gegenüber den horizontal und diagonal einwirkenden Kräften. Ney & Partners schlugen für die Holzdecken in erster Instanz verleimte Rippenplatten (so genannte „Pi-Platten“) vor, bei denen die Brettschichtholzrippen schubfest mit den Brettsperrholzplatten verleimt sind und die auf ein Standard-Achsmaß von7,2 x 8,4 m aufgebaut sind. Aufgrund von logistisch unwirtschaftlichen Transporten – verleimte räumliche Deckenplatten hätten etwa 60 Prozent mehr Transporte bedeutet – entschied man sich dafür, anstatt der verleimten Rippenplatten bauseitig verschraubte Deckenelemente zu entwickeln. Diese Deckenelemente erstellt man aus Brettschichtholzrippen und Brettsperrholzplatten. 

Freistehende Tragkonstruktion 

Die Fußbodenkonstruktion des ersten Geschosses ragt von der hohen Halle in die niedrigere Seitenhalle. Dadurch wurde die Stabilität der Holzdecken in der niedrigen Halle gewährleistet. Um die Holzhäuser als von der historischen Tagkonstruktion freistehende Bauwerke entwickeln zu können und nicht zu nahe an die Fundamente der Stützen und Backsteinmauern heranzukommen, wurden die Rippenplatten entlang der Backsteinmauern auskragend entworfen und ausgeführt. Die Bodenplatten wurden dafür von oben durch Rippen verstärkt, die wiederum mit den Haupt- und Nebenträgern verschraubt wurden. Diese auskragenden Holzbalken konnten danach im Hohlraum unter dem Installationsboden unsichtbar verborgen werden.

Komplexe Anschlussdetails 

Das gesamte Projekt wurde als BIM Modell aufgebaut. Dadurch konnte Züblin Timber auf Basis der Vorgaben von Ney & Partners die Detailstatik und -planung für die Anschlüsse, Durchbrüche und Öffnungen für Installationen in Rippen und Wänden ausarbeiten. Züblin Timber wurde von Extensa im September 2017 kontaktiert und mit dem Projekt beauftragt. Martin Schimpf, Projektleiter bei Züblin Timber, erklärt, dass es bereits vor der Beauftragung eine Art „Pre-construction“-Phase gab, in der nach möglichen Optimierungen im Fertigungs- und Montageprozess gesucht wurde. Während dieser Phase wurden unter anderem die sehr komplexen Anschlussdetails von Züblin Timber entwickelt und in enger Kooperation mit Ney & Partners und NRA diskutiert und finalisiert. 

Martin Schimpf bezeichnet das gesamte Projekt als „ein Paradebeispiel für die Anwendung von 5D-Technologien, da interdisziplinär zeitgleich mehrere Gewerke am selben 3D-Modell gearbeitet haben und im Rahmen einer digitalen Kollisionsprüfung, Planungsfragen zeitnah gestellt und beantwortet wurden.“ Auf diese Art und Weise konnte seinen Angaben nach eine „Hand-in-Hand“-Planung mit schlanken Schnittstellen umgesetzt werden. Pro Gebäude betrug die Vorlaufzeit für die Produktion inklusive der Werkstattplanung und der CNC-Programmierung etwa 3 bis 4 Wochen. Die Produktion der Holzbauteile belief sich wiederum auf etwa eine Woche, der Transport und das Aufrichten vor Ort auf etwa 4 Wochen. Aufgrund der Projektgröße und der Anzahl der zu realisierenden Pavillons verliefen die Planung und Produktion der Gebäude parallel. 

Eine unabhängige Stadt  

Der umgebaute Bahnhof Gare Maritime ist als energieneutrales Gebäude konzipiert und wird ohne die Verwendung fossiler Brennstoffe betrieben. Durch die Dämmung der historischen Dächer und die Erneuerung aller Glasfenster bildet das Bestandgebäude eine hochgedämmte Hülle. Zur Energiegewinnung wurden die Glasflächen der hohen Hallen an der südwestseitig gelegenen Picard-Straße durch bauwerkintegrierte Photovoltaik-Gläser (BIPV-Gläser) ersetzt und auf den hohen Dächern 17 000 m² Solarzellen angebracht. An den langen Glasfassaden der hohen Lagerhallen wurden im Zuge der Renovierung dimmbare, elektrochrome „Halio“-Sonnenschutzgläser montiert. So konnte auf Sonnenschutzelemente wie etwa Rollos an den historischen Fassaden verzichtet werden. Erdwärmepumpen liefern die notwendige Energie für das Heizsystem. Nicht zuletzt wird das Regenwasser gesammelt und zur Spülung der Toiletten sowie der Bewässerung der Gärten verwendet. 

Der nächste Schritt 

Räumlich und konzeptuell gesehen betrachtet Dieter De Vos, Projektleiter bei Neutelings Riedijk Architekten, das Bauwerk als gelungen, auch wenn es durch die Corona-Maßnahmen und -beschränkungen noch nicht vollständig in Gebrauch genommen werden konnte. Materialtechnisch und konstruktiv war die Arbeit mit Brettsperrholz für die Architekten ein Novum. Die Unterstützung des Bauherrn war umso wichtiger, da das Bauen mit Holz, vor allen in derartigen Mengen, in Belgien eine Ausnahme ist und daher gewisse administrative Prozesse überwunden und bau- und brandtechnische Zertifizierungen erst eingeholt werden mussten. Zudem stellte das Finden einer kompetenten und erfahrenen Holzbaufirma, die diese Bauaufgabe bewältigen konnte, ein Schlüsselelement für die erfolgreiche Umsetzung des Bauvorhabens dar. Martin Schimpf betont, dass die sehr kurzen Planungs-, Vorlauf- und Bauzeiten für seine Firma die größte Herausforderung waren. Daneben erforderten vor allem die Montage des großvolumigen Holzbaus vor Ort und die sehr beengte räumliche Einbausituation, sowie die logistische Planung der Transporte größte Aufmerksamkeit.

 

Autor

Michael Koller ist Architekt, Stadtplaner und Journalist. Er lebt und arbeitet in Den Haag.

Baubeteiligte (Auswahl)

 

Bauherr und Projektentwickler Extensa Group, Brüssel, www.extensa.eu  

Architekten (Sanierung und Instandsetzung)

Jan de Moffarts, Bureau Bouwtechniek und Ney & Partners, Brüssel, https://ney.partners  

Architekt (Holzbau) Neutelings Riedijk Architecten, Rotterdam, https://neutelings-riedijk.com

Statik Ney + Partners, Brüssel, https://ney.partners 

Generalunternehmer CFE Bouw Vlaanderen, Antwerpen, www.mbg.de  

Holzbauarbeiten Züblin Timber, Aichach, www.zueblin-timber.com  

Fensterprofile Jansen, CH-Oberriet, www.jansen.com

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