Kunstquartier Göttingen mit Besenstrich-Fassade
Ein Kunstquartier entsteht in Göttingen, dort, wo mittelalterliche Gebäude die Kulisse prägen und das Günter-Grass-Archiv seinen Platz hat. Nun ist das Kunsthaus hinzugekommen, ein besonderer Neubau, in dem Arbeiten auf Papier präsentiert werden. Ebenso besonders: die Fassade mit ihrem Kammzug.
Die „Nachbarn“ sind alt, sehr alt. Seit über 700 Jahren stehen die altehrwürdigen Bauten hier in der Düsteren Straße, geduckt, zurückhaltend, aber mit fein restauriertem Fachwerk. Zwischen sie hat sich nun ein Neubau platziert. Gedrängt wäre falsch, denn der Neuling zeigt viel Respekt, bandelt mit seinen Nachbarn an, entstammt aber unverkennbar der Jetztzeit. Das Kunsthaus Göttingen, 2021 eröffnet, ist ein gelungenes Werk: Es fügt sich harmonisch in die schmale Lücke der Göttinger Altstadt ein und bietet auf seinen insgesamt vier Geschossen eine Ausstellungsfläche von 500 m2 – bei einer Grundstücksgröße von gerade mal 140 m2. Knapp drei Jahre wurde am Kunsthaus gebaut, dessen Konzeption auf den Wettbewerb des Jahres 2016 zurückgeht.
Alt und neu in der Düsteren Straße
Exakt eingepasst: Das Kunsthaus Göttingen bezieht sich auf seine mittelalterlichen Nachbarn, zeigt aber auch klar, dass es sich um einen Neubau handelt
Foto: Caparol / Andreas Braun
Wer die Düstere Straße in der südlichen Altstadt Göttingens entlanggeht, wird das neue Gebäude vermutlich erst gar nicht wahrnehmen. Der Neubau, entworfen vom Leipziger Architekturbüro Atelier ST, bleibt sehr dicht an den historischen Bautraditionen, zumindest auf formaler Ebene, während der Stahlbetonbau mit seinem mineralischen Wärmedamm-Verbundsystem konstruktiv ein Kind seiner Zeit ist. Die Traufständigkeit, das spitze Dach, die Betonung der Horizontalen und das der Rähmbauweise nachempfundene Auskragen der einzelnen Etagen – all dies sind Anleihen aus der Tradition mittelalterlichen Bauens.
Im Inneren jedoch herrscht kompromisslose moderne Reduktion, aus der eine charaktervolle Bühne für die Exponate der Druckgrafik und Fotografie erwächst. Hohe Räume, ein bis in den First offenes Dachgeschoss, Sichtbeton und filigrane Treppengeländer: All das gibt dem Haus eine elegante, klare und bewusste Erscheinung. „Es sollte bis auf die Wandflächen der Ausstellungsräume ein veredelter Rohbau bleiben“, so Architekt Sebastian Thaut.
Der horizontale Besenstrich – ein Hingucker
Reduktion prägt auch den Duktus der Fassade: Monochrom in einem warmen Hellgrau gehalten und nur mit wenigen Öffnungen versehen, fällt sie in der Straßenflucht zunächst kaum auf. Steht man jedoch unmittelbar vor ihr, dann dürften den Betrachtern die Augenbrauen nach oben zucken. Die komplette Straßenfassade wurde wie auch die zum halböffentlichen Hof orientierte Fassade mit einem horizontalen Kammzug versehen – in einer Perfektion, die ihresgleichen sucht – ein echter Hingucker! So präzise die Plastizität, so präzise läuft der Zug über die gesamte Länge der Fassade – wer die Technik kennt, der weiß, wie herausfordernd sie sein kann.
Oben der schon fertiggestellte Besenstrich, unten die Handwerker bei der Vorbereitung
Foto: Malerbetrieb Bosold
In Göttingen gelang die Umsetzung geradezu beispielhaft – mittels eines rund 60 cm breiten Werkzeugs, kombiniert mit einer Führungsschiene sowie der notwendigen Mischung aus ruhiger Hand, beherzter Bewegung und dem persönlichen Einsatz der ausführenden Fachhandwerker des Küllstedter Malerbetriebs Bosold.
Ergänzt werden die beiden Hauptfassaden durch die Besenstrich-Technik an den Giebelseiten: Der Oberputz erhielt hier ebenfalls eine horizontale, jedoch feinere Strukturierung. Die bewusste Anwendung des traditionellen Stilelements der Fassadenhierarchie gliedert das Kunsthaus also in doppeltem Sinn in den geschlossenen historischen Straßenzug ein. Das Kunsthaus beweist, dass die beiden traditionellen, handwerklichen Techniken auch in der heutigen Architektur ihre Berechtigung haben.
Schritt für Schritt – Probemuster inklusive
Vor der endgültigen Ausführung des Kammzuges entstanden mehrere Probemuster für Farbton und Struktur, die vor Ort gesichtet, verändert, bewertet und schließlich verbindlich abgenommen wurden. Der Kammzug war übrigens als wesentliches und definiertes Merkmal der Fassade bereits im öffentlichen Ausschreibungsverfahren enthalten und wurde dadurch entsprechend vergütet – eine leider oft unterschätzte Voraussetzung für Qualität. Die Erstellung von Mustern wurde – genauso wie das Anfertigen des Werkzeugs – gesondert vergütet, was die Relevanz hervorhebt. Der „Kamm“ selbst blieb nach Ausgebrauch beim Bauherrn – für künftige Ausbesserungen oder Renovierungen.
Mit einer Tiefe von rund drei mm nimmt der Kammzug Teilbereiche des „Capatect“-Fassadenputzes fein ab. Das Ergebnis ist eine horizontal und linear strukturierte Fassade mit einer – vor allem bei bestimmten Lichtverhältnissen – faszinierenden Plastizität. „Mit dem Kammzug war ein einzelner Mitarbeiter betraut, was die konstante Handschrift und Qualität sicherstellte. Auch dies trug wesentlich zum Ergebnis bei“, so Bauleiterin Nicole Thiele.
Die Geschosshöhe entspricht den heutigen Anforderungen an Ausstellungsräume und lässt sich sehr gut an den Auskragungen ablesen
Foto: Caparol / Andreas Braun
Ebenso relevant war die präzise Arbeitsvorbereitung: Die Mitarbeitenden von Christian Bosold maßen die Fassadenbereiche der Höhe nach zunächst genau auf und positionierten die jeweilige Führungsschiene so, dass unabhängig vom Geschossversatz immer gleiche Kammzug-Rapporte entstanden. Nicht nur dies, auch die enge Abstimmung mit dem Gerüstbau, der flexibel auf den Stand der Fassadenbearbeitung reagierte, sicherte die Gleichmäßigkeit der Fassadenstruktur.
Das Papier nach außen geholt
Übrigens ist der Kammzug nicht einfach eine formale, oberflächliche Idee, er trägt das, was in seinem Inneren stattfindet, in gewisser Weise nach außen. „Der klar gegliederte Baukörper erinnert mit seiner horizontalen Putzstruktur an einen Stapel Bücher und an geschichtete Papiere“, so Sebastian Thaut. Jene Papiere, die als Druckgrafiken das Kunsthaus beleben.
Autor
Armin Scharf ist freier Journalist und schreibt vor allem über Industriedesign und Technologie.
Baubeteiligte / Produkte (Auswahl)