Stuckateur Tobias Schmider schafft Unikate aus Gips und Mörtel
Bei der Weltmeisterschaft der Berufe im russischen Kasan glänzte Stuckateur Tobias Schmider für Deutschland mit Spachtel und Kelle. Die WM war für ihn ein bisschen wie Extremsport: „Wir machen Sachen, wo andere nur staunen, was mit Gips möglich ist.“
Wie viel ihm die WM der Berufe bedeutet, macht Stuckateur Tobias Schmider schon einige Monate vor dem Wettkampf klar – indem er kündigt. Als sein Arbeitgeber ihn für die WM-Vorbereitung nicht freistellen will, wechselt er in den Betrieb seines Vaters. Ein Schritt, der ohnehin geplant war, nur dass er nun früher kommt. „Er hat diese Chance nur einmal im Leben. Da sollte er perfekt vorbereitet sein“, sagt Peter Schmider, Stuckateurmeister aus dem fränkischen Windelsbach. Bei der nächsten WM 2021 in Shanghai wäre sein Sohn 23 – zu alt für eine erneute Teilnahme, die auf maximal 22 Jahre begrenzt ist.
Durch den Wechsel kann sich der 21-Jährige ganz auf die WM-Vorbereitung fokussieren. Ab sofort trainiert er 50 bis 60 Stunden pro Woche, baut Übungs- und tatsächliche Aufgaben von Welt- und Europameisterschaften der vergangenen Jahre nach – oft bis abends um acht. Mal schraubt und spachtelt er im Stuckkeller seines Vaters, mal in der Handwerkskammer Mittelfranken in Nürnberg, wo sein Trainer Josef Gruber mit ihm an Technik und Strategie feilt.
Tobias Schmider ist stolz, sein Handwerk bei der WM auf so hohem Niveau vorstellen zu können. „Wir machen tolle Sachen, wo andere nur staunen, was mit Gips möglich ist. Für mich ist das ein bisschen wie Extremsport.“ Er hofft auf eine Medaille in Kasan. Doch wird es gegen die starke Konkurrenz reichen? In China, Japan oder Taiwan werden die Teilnehmer bereits zwei Jahre vor der WM von ihren Arbeitgebern vom Beruf freigestellt, um sich auf den Wettbewerb vorzubereiten.
Schrauben mit Stoppuhr im Rücken
Kasan, 800 Kilometer östlich von Moskau, am 23. August 2019: Erster Wettkampftag für die insgesamt 1354 Teilnehmer der 45. WorldSkills, die in 56 Disziplinen aus Handwerk, Industrie und Dienstleistungen antreten. In Halle C3 kämpfen die besten Nachwuchs-Stuckateure um Medaillen und versenken mit Akkubohrern Schrauben in Gipskartonplatten.
Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Insgesamt müssen die Teilnehmer an vier Wettkampftagen in 22 Stunden vier Module bewältigen: In Modul 1 errichten sie eine 2,1 x 2,1 x 2,1 m große Unterkonstruktion aus Metallschienen, die mit Gipskartonplatten beplankt und mit Wärmedämmung isoliert wird. So entsteht ein würfelförmiger Raum mit Boden, Wänden und Decke sowie Ausschnitten für eine Tür, ein Fenster und einen maurischen Bogen. Modul 2 umfasst das vollflächige Verputzen beziehungsweise Spachteln aller Innen- und Außenwände sowie Laibungen in Q3. In Modul 3 bringen die Kandidaten ein Sockelprofil sowie vorgefertigte Stuckleisten um die Fensterlaibungen herum an und putzen sie ein. Zum Abschluss (Modul 4) gestalten sie eine Fläche individuell mit Putz und Farbe.
Die Jury schaut sich das Ergebnis mit Argusaugen an: Alle Flächen müssen lot- und fluchtgerecht aufgebaut werden. Jede Abweichung wird mit Punktabzug bestraft. Auch winzige Versätze ahndet die Jury, die sich aus Experten der am Wettbewerb der Stuckateure beteiligten Länder zusammensetzt. Außerdem kontrolliert sie die vorschriftsmäßige Verarbeitung und die Schichtdicke beim Spachteln von 1,5 mm.
Was die Aufgabe noch deutlich erschwert: Während die Metallständer auf der Baustelle an Boden und Decke befestigt werden und dadurch automatisch Halt bekommen, hängen sie hier als freistehende Konstruktion zu Beginn quasi in der Luft. Auch der maurische Bogen – eine Form, die an die Kuppeln im muslimisch geprägten Kasan erinnert – ist im Arbeitsalltag eines deutschen Stuckateurs eher die Ausnahme.
Um nicht unnötig Zeit zu verlieren, sollten sich die Teilnehmer über ihre Arbeitswege und die Anordnung des Werkzeugs schon im Vorfeld Gedanken gemacht haben: Liegen Wasserwaage und Akkuschrauber griffbereit? Heben sie die Gipsplatten vom Boden auf oder haben sie sie bereits in Hüfthöhe auf einem Kasten abgestellt, um sie nur noch herüberzutragen? „Einmal mehr bücken und etwas suchen, macht jedes Mal ein paar Sekunden“, weiß Josef Höninger, Stuckateurmeister aus Ertingen in Baden-Württemberg. Arbeitskollegen, Freunde und Familie sind nach Russland gekommen, um den deutschen Kandidaten hinter der Bande zu unterstützen.
Kaum Dächer im Wettkampf
Obwohl Tobias Schmider handwerklich eine starke Leistung bringt, endet der erste Tag enttäuschend. Dem Gesellen fällt zu spät auf, dass die Breite russischer Gipskartonplatten geringfügig von dem in Deutschland üblichen Maß abweicht. Er verliert dadurch rund anderthalb Stunden Zeit und wird nicht mit dem Trockenbau fertig: Das Dach fehlt – wie bei etwa 80 Prozent aller Teilnehmer. Da der erste Wettbewerbstag rund die Hälfte des Endergebnisses ausmacht, ist der Fehler nicht mehr aufzuholen.
„Der Zeitdruck bei der WM ist enorm. Die Jungs gehen an ihre Grenzen“, weiß Tobias‘ Vater Peter Schmider. Er hält den Zeitplan für überambitioniert: „Die Jury sagt: Wenn es einer schafft in der Zeit, dann gilt das als Maß für alle. Trotzdem ist doch die Frage: In welcher Qualität arbeite ich? In Deutschland geht Genauigkeit vor Tempo. Das ist nun mal unsere Mentalität.“ Absichtlich ungenau arbeiten, um schneller zu sein, könne sein Sohn nicht: „Das nimmt ihm die Freude, das demotiviert ihn.“
Trotz des Rückschlags gibt Tobias Schmider bis zuletzt alles. Beim Freestyle-Modul am Schlusstag gestaltet er einen Sonnenuntergang in verschiedenen Putztechniken, aus dem eine aus Stuck gefertigte Turmspitze der Kul-Scharif-Moschee in Kasan dreidimensional herausragt. Das Motiv ist ein oft fotografierter Hingucker – und doch fürs Endergebnis kaum noch relevant. Nach dem Abpfiff wirkt Tobias erleichtert, Druck und Anspannung fallen von ihm ab.
Am Ende wird er Siebter, der Russe Imran Tochiev gewinnt. Doch die erste Enttäuschung über die verpasste Medaille legt Tobias Schmider schnell ab: Er freut sich über die Unterstützung seiner mitgereisten Freunde und Familie und die unvergesslichen Eindrücke von der WM.
Knirps zwischen Gips-Säcken
An der Liebe zu seinem Handwerk ändert die Platzierung ohnehin nichts. „Das Tolle an unserem Beruf ist: Wir schaffen Unikate. Wir machen aus wenig viel: Gips, Holz, Metall, ein paar Maschinen – das reicht uns schon.“
Die Freude am Bauhandwerk wurde ihm von klein auf mitgegeben. Tobias Schmider wuchs „zwischen Gips-Säcken“ im elterlichen Betrieb auf. Schon als Knirps nahm ihn sein Vater mit auf die Baustelle. „Der hat oft ausgesehen: von Kopf bis Fuß mit Gips eingeschmiert“, erinnert sich Peter Schmider schmunzelnd.
Später experimentierte sein Sohn in der Stuckwerkstatt des Vaters, entwarf Säulen oder Profile. „Ich hab einfach das gemacht, was mir gefällt.“ In der 7. Klasse entschied er sich, Stuckateur zu werden. Nicht allen Lehrern und Mitschülern gefiel das. Die Arbeit auf dem Bau sei zu laut, zu dreckig und mache den Körper kaputt, bekommt Tobias Schmider zu hören. „Totaler Blödsinn“, findet er. „Leider gibt es noch immer viele Vorurteile.“
Schmider schätzt die Vielfalt seines Berufs, keine Baustelle sei gleich: Die Aufgaben reichen von Gerüst- über Trockenbau, Putz, Stuck und Malerarbeiten bis hin zu Wärmedämmung. Beim Spachteln und Verputzen komme es vor allem auf das Können des Handwerkers an. Mit Gespür fürs Material könne man mit einfachen Mitteln großartige Oberflächen schaffen. „Der Putz hält Dir den Spiegel vor: An der Oberfläche siehst Du, was jemand kann und wie motiviert er ist.“
Nach der WM will er sein Repertoire auf der Meisterschule erweitern und irgendwann den Betrieb seines Vaters übernehmen.
Zuvor hat Tobias zusammen mit dem Nationalteam der Stuckateure und Auszubildenden des Lehrbauhofs Berlin noch einen Weltrekord aufgestellt, der ins Guinness-Buch der Rekorde eingetragen wurde. Am 13. September ging es darum, den bisherigen – inoffiziellen – Rekord eines Schweizer Teams, das einen 84 m langen Stuckstab gezogen hatte, zu brechen. Für die Aufnahme ins Buch der Rekorde galt es, die Marke von mindestens 100 m zu knacken. Am Ende schafften die deutschen Nachwuchshandwerker mit 104,27 m souverän den Weltrekord für den längsten Stuckstab der Welt. In einer beispielhaften Teamleistung, bei der es wegen des abbindenden Gipses einerseits um Schnelligkeit ging, andererseits aber auch auf Genauigkeit und Präzision ankam, stellten sie eine kannelierte Halbsäule in verkaufbarer Qualität her. Nach der leichten Enttäuschung wegen der WorldSkills in Kazan war dieses Erfolgserlebnis ein großes Trostpflaster.
AutorDipl.-Ing. Michael Brüggemann studierte Architektur in Detmold und Journalismus in Mainz. Er arbeitet als Redakteur und schreibt außerdem als freier Autor unter anderem für stern, DBZ, bauhandwerk und dach+holzbau.