Vor dem Einsturz bewahrt
Sanierung eines neugotischen Gebäudes in Leipzig
Leipzig war in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts eines der Zentren der Neugotik. Das einzig in diesem Stil erhaltene Gebäude der Stadt ist ein Wohnhaus in der Seeburgstraße. Nach Umbau und Sanierung befindet sich heute darin ein Studentenwohnheim.
Das Wohnhaus in der Leipziger Seeburgstraße wurde 1855 vom Leipziger Maurermeister Otto Steib für den Theologieprofessor F. W. Lindner im Stile der Neugotik erbaut. Aus Ziegelmauerwerk zeigt es zahlreiche gotische Formen an der Fassade. Auch die beiden Hauseingänge wurden in gotischen Spitzbögen ausgeführt. Die Fenster weisen demgegenüber rechteckige Formen auf. Strebepfeiler dienen als architektonische Fassadenelemente. Auch die ursprüngliche Dachfläche war mit zahlreichen Fialen (kleinen Türmchen) versehen. Diese waren zu Beginn der Sanierungsarbeiten allerdings schon nicht mehr vorhanden.
Ursprünglich gab es in dem dreigeschossigen Haus jeweils nur eine Wohnung pro Etage. Ein späterer Eigentümer richtet im Erdgeschoss eine Buchbinderei ein und ließ 1888 an der Westseite einen zweigeschossigen Fabriksaal anbauen. Nach mehrjährigem Leerstand erwarb das Studentenwerk das Gebäude und baute es zu einem Studentenwohnheim um.
Akute Einsturzgefahr zwang zum Handeln
In Folge des langjährigen Leerstand war das Gebäude insbesondere durch die undichte Dachhaut und das eindringende Niederschlagwassers akut einsturzgefährdet. Die Feuchtigkeit war bereits bis in das Untergeschoss vorgedrungen, infolgedessen waren viele Holzbaubeile von Pilzen befallen. Sämtliche inneren Bauteile, wie Decken und Wände, mussten abgerissen werden. Zudem wäre bei der nächsten Frostperiode womöglich der Giebel einstürzt. Der Fabriksaal war baufällig und nicht mehr zu retten. Auch dieser Gebäudeteil musste abgerissen werden. Nach Aussagen des Bauleiters, Herrn Gölitz von der Firma Bilfinger und Berger, hätte das Gebäude nach weiteren Wintern nicht mehr erhalten werden können. Damit war ein schnelles Handeln zur Rettung dieses historischen Bauwerkes gefordert. Herr Kiessing, als ehemaliger Geschäftsführer des Studentenwerkes Leipzigs, betreute das Bauvorhaben von Seiten des Studentenwerk Leipzig mit sehr großem Einsatz bis zum Schluss.
Entkernung und Bestandssicherung
Der erste Bauabschnitt bestand Ende 2010 in der Gebäudesicherung und dem Teilabriss des Dachgeschosses. Bereits ein Jahr später konnte das Richtfest gefeiert werden. Die termingerechte Übergabe fand Mitte Juni 2011 statt, und somit konnte das sanierte und zum Studentenwohnheim umgebaute Gebäude schon für das Wintersemester 2012 genutzt werden.
Um allerdings überhaupt mit den Sanierungsarbeiten beginnen zu können, war eine komplette Entkernung notwendig. Dabei brachten die Handwerker zunächst ein Sicherungsgerüst an der Fassade an, um dann das gesamte Haus vollständig zu entkernen. Danach konnte der völlige Neuaufbau der Decken- und Wandkonstruktion beginnen. Die Decke wurde als Stahlbetonkonstruktion ausgeführt. Die inneren Trennwände mauerten die Handwerker – unter anderen aus schallschutztechnischen Gründen – aus Kalksandstein auf. Nachdem die Handwerker die inneren Rohbauarbeiten abgeschlossen hatten, demontierten sie das Sicherungsgerüst der Fassade.
Denkmalgerechte Fassadensanierung
Nun konnte mit der denkmalgerechten Fassadensanierung begonnen werden. Dazu war es notwendig große Teile des Fassadenmauerwerkes auszutauschen. Um dabei den Vorgaben des Denkmalschutzes gerecht zu werden, wurden 22 000 handgeformte Ziegel im Klosterformat vermauert, die vorab bei einem Ziegelhersteller speziell für dieses Bauprojekt gebrannt worden waren.
Die Fenster- und Türgewände hatte man bei der Errichtung des Gebäudes in Naturstein ausgeführt. Die Gewände waren auf Grund der langen Standzeit in einem sehr schlechten Zustand. Um sie zu erhalten, waren sehr umfangreiche Steinmetzarbeiten notwendig. Einzelne Tür- und Fenstergewände konnten die Handwerker jedoch nicht mehr erhalten. Sie mussten komplett erneuert werden. Andere Gewände konnten fachgerecht wieder aufgearbeitet und zum Teil neu ergänzt werden.
Wiederherstellung und Umbau zum Studentenwohnheim
Parallel zur Fassadensanierung begann man mit den allgemeinen Ausbauarbeiten. Hier wurde das Augenmerk auf die heutigen Anforderungen an ein Studentenwohnheim gelegt. Im Denkmalschutzkonzept war die Wiederherstellung des ursprünglichen Daches vorgeschrieben. Hierzu nutzte man historische Dokumente. Anhand dieser Dokumente bauten die Zimmerleute den Dachstuhl mit 18 neuen Gauben wieder auf. Auch die 25 Fialtürmchen des Südgiebels wurden wieder errichtet. Für die Eindeckung verwendete man Berliner Biberschwänze mit Segmentschnitt.
In diesem einzig erhaltenen neogotischen Bauwerk Leipzigs wurden 36 Studenten-Appartements errichtet, die alle über eine eigene Badzelle sowie eine Küche verfügen. Die Größe der einzelnen Appartements beträgt nur etwa 18 m². Im Keller stehen den Studenten außerdem ein Waschmaschinen-, Fitness-, und Fahrradraum zur Verfügung. Da das benachbarte Gründerzeithaus ebenfalls vom Studentenwerk Leipzig zu einem Wohnheim umgebaut wurde, konnten beide Grundstücke für eine gemeinsame Außenanlage genutzt werden. Somit ist es den künftigen Nutzern (Studenten) auch des Nachbargebäudes möglich, über die Außenanlage in das Untergeschoss und in den Fahrradabstellraum zu gelangen.
Die Baukosten in Höhe von etwa vier Millionen Euro wurden vom Studentenwerk Leipzig allein getragen. Die Stadt Leipzig bezuschusste aus Denkmalschutzmitteln das Bauvorhaben mit rund 140 000 Euro. Das Geld ist gut investiert, denn durch die neue Nutzung konnte unter Einbeziehung der Nachbargebäude ein historisch wertvolles Gebäudeareal erhalten werden. Mit den gemeinsamen Anstrengungen der am Bau Beteiligten konnte das einzigartige Gebäude vor dem Abbruch bewahrt werden. Die ausführenden Handwerksbetriebe haben unter Führung des Generalunternehmers Bilfinger und Berger ihr fachliches Können unter Beweis gestellt. Diese haben bei der Sanierung auch die historische Bausubstanz mit einbezogen und somit der Nachwelt ein einmaliges Gebäude für das Stadtbild von Leipzig erhalten – ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Investor, Bauausführenden und dem örtlichen Amt für Denkmalpflege.
Autor
Dipl.-Ing. Lutz Reinboth ist Bauingenieur in Leipzig, Fachautor und freier Autor unter anderem der Zeitschrift bauhandwerk.Weitere Infos unter www.lutz-reinboth.de
Bei der nächsten Frostperiode wäre womöglich der Giebel einstürzt